- Homecare 10. Homecare-Kongress des BVMed: „Die über 5.000 spezialisierte Pflegefachkräfte der Homecare-Unternehmen besser in die Strukturen einbinden“
Die weit mehr als 5.000 hochqualifizierten Pflegefachkräfte, die bei Hilfsmittel-Leistungserbringern und Homecare-Versorgern tätig sind, müssen besser in die ambulanten Versorgungsstrukturen eingebunden und deren Potenzial zur Verbesserung der Patient:innen-Versorgung genutzt werden. Das forderten Branchenexpert:innen auf dem zehnten Homecare-Management-Kongress der BVMed-Akademie am 20. und 21. September 2023 in Berlin. „Wir haben viel zu bieten, aber uns sind die Hände gebunden. Wir brauchen eine kostendeckende Finanzierung und müssen alle Beteiligten aus der Versorgung an einen Tisch holen, um effiziente Strukturen zu schaffen“, so Daniela Piossek von der Hartmann-Gruppe in der Auftaktrunde. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Kordula Schulz-Asche möchte die Pflege und andere Gesundheitsberufe zudem besser in die digitalen Strukturen einbeziehen. Pflege und Homecare sollten auch in die elektronische Patientenakte (ePA) eingebunden werden, forderten Kongressteilnehmende.
PressemeldungBerlin, 22.09.2023, 78/23
Bild herunterladen Der BVMed-Vorstandsvorsitzende Dr. Meinrad Lugan wies in seiner Begrüßungsrede darauf hin, dass die Diskussion über die zukunftssichere Gestaltung ambulanter Strukturen „aktueller und relevanter als jemals zuvor“ sei. Die diskutierte Krankenhausreform lasse nach wie vor die Frage offen, wie ambulante Strukturen künftig besser eingebunden werden können. „Klar ist: Die Welt der ambulanten Versorgung wird sich dramatisch ändern“, so Lugan. Moderatorin Bettina Hertkorn-Ketterer hob den steigenden Bedarf an ambulanter Versorgung durch weniger Kliniken, kürzere stationäre Aufenthalte und eine älter und pflegebedürftig werdende Bevölkerung hervor. „Dafür müssen die ambulanten Strukturen geschaffen und gestärkt werden“, lautete ihre Forderung. Für eine wohnortnahe Versorgung brauche es vor allem eine gute Koordinierung und spezialisierte Fachkräfte – das sei die Stärke von Homecare. Auch Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR), appellierte, die ambulante Versorgung „mehr in den Fokus“ zu nehmen. Sie forderte leistungsgerechte Vergütungsstrukturen und mehr Handlungsautonomie für Pflegefachkräfte.
Politische Podiumsdiskussion am Vorabend: Effizientere Versorgungsstrukturen ermöglichen
Kordula Schulz-Asche von der Grünen-Bundestagsfraktion plädierte dafür, „mit allen Akteuren, die an der Versorgung beteiligt sind“ über Versorgungsstrukturen zu sprechen. Zudem müssten auch neue Strukturen geschaffen werden, beispielsweise in der Tages- oder Kurzzeit-Pflege. „Alle Akteure müssen lernen, besser miteinander und Patienten-zentrierter zur arbeiten – und in lokalen Netzwerken ihre Kräfte zu bündeln.“ Ein Schwerpunkt müsste auch eine bessere Digitalisierung werden: nicht nur bei den Verordnungs- und Abrechnung-Prozessen, sondern auch, „um die Versorgung zu verbessern, indem wir vernünftige Anwendungsfälle mit KI-Unterstützung finden“, so die Politikerin.
Ates Gürpinar von der Linken-Bundestagsfraktion kritisierte, dass die aktuell diskutierte Krankenhausreform keine Lösungen zur zukunftssicheren Stärkung der ambulanten Versorgung biete. Er befürchtet einen Kahlschlag in der stationären Versorgung, die Krankenhauslandschaft werde „ein Stück weit wegsterben“. Die Frage sei, wie regionale ambulante Gesundheitszentren finanziert werden sollten. Er plädierte für eine Abkehr von Pauschalen. Grundlage müsse eine kommunale Versorgung in kommunaler Hand sein – „basierend auf dem Kostendeckungsprinzip“. Die notwendige Reform könne nicht gelingen, wenn kein Geld in die Hand genommen werde.
Daniela Piossek, Leiterin Gesundheitspolitik bei der Hartmann-Gruppe, unterstützte den Ansatz des Kostendeckungsprinzips. So sei beispielsweise in der Inkontinenzversorgung das Problem, dass die Kosten in der Versorgung nicht gedeckt seien. „Wir brauchen eine solide Finanzierungsbasis“, so die Branchenexpertin. Es müsse aber auch darüber nachgedacht werden, wie die Strukturen effizienter gestaltet werden könnten. Die sektorenübergreifende Versorgung sei hier der richtige Ansatz. „Aber diejenigen, die hier helfen können, also die Hilfsmittel-Leistungserbringer und Homecare-Versorger, werden gar nicht beachtet und einbezogen. Wir müssen keine neuen Strukturen aufbauen, wir müssen die vorhandenen Strukturen besser nutzen und regionale Lösungen schaffen“, argumentierte Piossek. Ziel müsste es sein, das SGB V vom Verwaltungs- und Bezahlgesetz zum patient:innenzentrierten Versorgungsgesetz umzubauen.
Nina Benz von der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz bemängelte, dass die ambulante Pflege zwar gesehen und wahrgenommen, aber nicht entsprechend eingebunden werde. „Gute ambulante Pflege darf nicht länger ein Minusgeschäft sein. Wir müssen die Pflege auskömmlich finanzieren.“ Sie plädierte dafür, dass die Politik die Fachexpertise der an der Versorgung vor Ort Beteiligten besser einbindet. Auch für Jan Hanisch, Hilfsmittelexperte der AOK Sachsen-Anhalt, muss der Fokus auf der ambulanten Versorgung liegen, „denn sie ist immer die bessere Lösung als die stationäre Versorgung“. Die Leute seien zu Hause und müssten dort versorgt werden. „Wir müssen regional passende Konzepte finden, je nachdem, wie die Strukturen vor Ort sind“, so der Kassenexperte.
Kongressauftakt durch das BMG: Bauchladen von ambulanten Instrumenten für Vernetzung und Zusammenarbeit anbieten
Die anstehenden stationären und ambulanten Versorgungsgesetze beleuchtete Michael Weller, Abteilungsleiter Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Mit der Klinikreform verfolgt das BMG nach Weller vor allem drei Ziele: 1. die Daseinsfürsorge besser abbilden; 2. den „Hamsterrad-Effekt“ zurücknehmen, indem Anreize für Fallzahlen durch die Herausnahme des Pflegebudgets aus den DRGs wegfallen; 3. Entbürokratisierung durch weniger systemimmanente Einzelfallprüfungen. „Unsere Krankenhausversorgung in Deutschland ist teuer, ohne dass wir eine bessere Versorgung mit längerer Lebenserwartung als andere europäische Vergleichsländer haben“, argumentierte Weller. Ergänzt werde die Klinikreform durch eine Krankenhaus-Transparenzoffensive sowie dem Start der Hybrid-DRGs für ambulante OPs, beispielsweise der Hernienversorgung. Der Level Ii aus der Klinikreform ist für Weller der „ideale Ort“ für diese Hybrid-DRGs. Für die ambulante Versorgung befindet sich das „Versorgungsgesetz I“ aktuell in der Ressortabstimmung. Ziel sei, ein „Bauchladen von Instrumenten für Vernetzung und Zusammenarbeit, um den Entscheidern vor Ort flexible Lösungen ermöglichen. Entlassmanagement muss auch hier genau betrachtet werden“, so der BMG-Experte. Die Frage nach der Vergütung von Homecare-Leistungen „nehme ich mit, das ist aber im Versorgungsgesetz I noch nicht vorgesehen“, so Weller abschließend.
DPR: Ambulante Versorgung muss mehr in den Fokus
Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR), bezeichnete die persönliche Situation in der ambulanten Pflege als „sehr angespannt“. Grundlagen zur Personalbemessung seien kaum verfügbar. Die Personalplanung erfolge nicht primär bedarfsabhängig, sondern aufgrund der vertraglichen und finanziellen
Rahmenbedingungen. „In der ambulanten Versorgung haben wir mittlerweile eine deutliche Unterfinanzierung. Wir laufen aufgrund der Leistungsminderungen und Personalknappheit in eine prekäre Versorgungssituation im ambulanten Bereich“, warnt Vogler. Was ist zu tun? Vogler plädierte für eine Umstrukturierung des Finanzierungssystems – Kranken- und Pflegeversicherung müssten zusammengeführt werden. „Der Fokus muss weg von den ärztlichen Strukturen und den Selbstverwaltungen und hin zum Menschen, zum Patienten im Mittelpunkt. Wir brauchen endlich leistungsgerechte Vergütungsstrukturen und mehr Handlungsautonomie für Pflegende.“ Die DPR-Präsidentin sprach sich zudem dafür aus, die pflegerische Aus-, Fort- und Weiterbildung bundeseinheitlich zu regeln und „ambulante Versorgungsbereiche in der Gesellschaft als relevant“ zu platzieren: „Die ambulante Versorgung muss mehr in den Fokus!“
Dr. Cornelius Erbe, Bereichsleiter Versorgungsmanagement bei der hkk, beleuchtete die Zukunft der ambulanten Versorgung aus Sicht einer Krankenkasse. Ein steigender Versorgungsbedarf durch eine älter werdende und kränkere Bevölkerung stehe abnehmenden Ressourcen, wachsender Komplexität und stärkerer Regulierung gegenüber. „Das Korsett, in dem wir agieren können, wird immer enger. Der Druck im Kessel ist immer größer geworden. Jeder bemüht sich um Erfolg in seinem eigenen Geschäftsmodell, notfalls im Alleingang.“ Erbe plädierte dafür, die Kompetenzen auf der Versorgerseite besser einzubinden, um gute Konzepte zu gestalten: „für den Patienten, nicht für die Sektoren“. Benötigt werde eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Versorgung. Ein ideales Versorgungsmodell sei vernetzt, integriert und ganzheitlich – „auf der Basis von Versorgungsverträgen“. Auch die umgewandelten Krankenhäuser des Levels Ii könnten hier in der ambulanten Versorgung eine wichtige Rolle spielen. „Nur Orientierung am Patientenwohl kann alle Stakeholder zu koordiniertem Handeln führen“, so Erbe. Bedarf, Kompetenzen und Ideen seien da, es fehle aber noch die Blaupause für die ambulante Versorgung der Zukunft.
Qualifizierte Fachkräfte der Homecarer besser einbinden
Daniela Piossek von der Hartmann-Gruppe, stellvertretende Sprecherin des BVMed-Arbeitskreises Ambulante Gesundheitsversorgung, forderte die gezielte und stärkere Einbindung vorhandener qualifizierter Fachkräfte, um die ambulante Versorgung mit tragfähigen Versorgungskonzepten zu sichern. Es gebe zwar Ansätze wie spezialisierte Einrichtungen zur Versorgung chronischer und schwer heilender Wunden oder den Einsatz von „Community Health Nurses“ in ländlichen und unterversorgten Gebieten, dafür würden aber neue Qualifikationen benötigt. „Was ist jedoch mit den qualifizierten Pflegekräften, die heute schon täglich mit ihrer Fachexpertise und ihrer Berufserfahrung die Versorgung sicherstellen?“, fragt Piossek. Ihre These: „Eine flächendeckende qualitätsgesicherte Versorgung ist nur erreichbar, wenn wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass alle vorhandenen qualifizierten Pflegefachkräfte unabhängig von Ihrer Institution in die Versorgung und Übertragung ärztlicher Tätigkeiten einbezogen werden.“ Dafür stellte sie verschiedene Lösungsansätze zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung vor:
- Die Leistungserbringung sollte nicht allein auf neu definierte Qualifikationen ausgerichtet sein. Es gibt beispielsweise sehr gut ausgebildete Pflegeexpert:innen der Fachgesellschaft Stoma, Kontinenz und Wunde (FgSKW).
- Alle vorhandenen Kapazitäten sollten in die Sicherstellung der Versorgung einbezogen werden, beispielsweise Pflegekräfte aus Homecare-Unternehmen, die bereits jetzt einen großen Beitrag bei der Versorgung chronisch-kranker Menschen leisten.
- Ein sinnvolles und effizientes Nebeneinander von Spezialist:innen und Generalist:innen sollte möglich sein, beispielsweise sollten Wundspezialist:innen nicht zwingend für jeden routinemäßigen Verbandwechsel zuständig sein. Dies sollte auch von einem „generalistischen“ Pflegedienst übernommen werden dürfen.
- Neue Kooperationsmodelle müssen möglich sein. So könnte die Homecare-Pflegekraft, die bereits vor Ort ist, auch den Verbandmittel- oder Stomabeutel-Wechsel kostenneutral übernehmen.
- Die Einbeziehung aller vorhandenen spezialisierten Fachkräfte bei der Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an nicht-ärztliches Fachpersonal. Delegation sollte auch durch Fachkräfte mit vorhandenen Qualifikationen und Berufserfahrung erfolgen können. Substitution erfolgt durch neu definierte Qualifikationen und Berufsbilder.
Prof. Dr. Volker Amelung vom Institut für angewandte Versorgungsforschung vermisst in der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion „eine klare und ganzheitliche Vision, wie unser Zukunftssystem aufgestellt sein soll“. So werde viel Geld in einen medizinischen Reparaturbetrieb investiert, aber wenig in Prävention und andere Bereiche. Krankenhäuser müssten für spezialisierte Versorgungen eher am Rand dieser Vision stehen, nicht wie derzeit im Mittelpunkt. „Es geht eher darum, was wir vor Ort in der kleinen Kommune an Versorgungsstrukturen haben wollen. Wir müssen mit Prävention, Sozialdienst, ambulanter Versorgung starten. Der stationäre Bereich steht in diesem Bild erst am Schluss“, so Amelung.
Frank Leyhausen, Geschäftsführer von MedCom, hob in seiner Keynote hervor, dass neue Ideen für die Gesundheitsversorgung nur funktionieren können, wenn die Betroffenen bei ihrer Entwicklung mitgedacht und einbezogen werden. Für die erfolgreiche Implementierung von Innovationen müssen Nutzer:innen außerdem befähigt werden, Innovationen anzuwenden sowie in den Arbeits- und Lebensalltag zu implementieren.
Moderiert wurde der Kongresstag von Jessica Hanneken von BFS health finance. Am Nachmittag ging es in zwei Parallelworkshops um die Themen „Erwartungen an eine zukunftssichere Hilfsmittelversorgung“, moderiert von Bettina Hertkorn-Ketterer, sowie „Hilfsmittel digital: Zwischen Stagnation und Disruption“, moderiert von Dennis Giesfeldt vom Verband Versorgungsqualität Homecare (VVHC).