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 - Branche BVMed-Medienseminar 2020 | Forderungen der MedTech-Branche zur Bewältigung der COVID-19-Auswirkungen Dr. Meinrad Lugan, BVMed-Vorstandsvorsitzender

ArtikelBerlin, 01.10.2020

Die industrielle Gesundheitswirtschaft – abgekürzt IGW – ist ein für Deutschland enorm wichtiger Wirtschaftszweig. Sie steht für rund 85 Milliarden Euro Wertschöpfung, ein Exportvolumen von 120 Milliarden Euro und über 1 Million Arbeitsplätze.

Die Medizinprodukte-Industrie ist ein bedeutender Teil der Gesundheitswirtschaft.

  • Die MedTech Unternehmen beschäftigen in Deutschland über 215.000 Menschen.
  • Die MedTech-Branche ist stark mittelständisch geprägt. 93 Prozent der MedTech-Unternehmen beschäftigen weniger als 250 Mitarbeiter.
  • Und die Branche ist ein wichtiger Treiber des medizinischen Fortschritts. Dafür werden sehr intensive Forschungsanstrengungen unternommen. Im Durchschnitt investieren die MedTech-Unternehmen rund 9 Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung.
  • Deutsche Medizintechnik ist auf dem Weltmarkt sehr erfolgreich. Die Exportquote lag im Jahr 2019 bei rund 65 Prozent. Der Inlandsumsatz liegt bei über 33 Milliarden Euro.

Dennoch mangelt es aus unserer Sicht noch immer an einer ausreichenden Wertschätzung der Branche in der Politik und der Öffentlichkeit.

Ein Beispiel von vielen: Die Mittelstands-Strategie der Bundesregierung erwähnt die Medizintechnik mit keinem Wort.

Dabei haben gerade kleine und mittlere MedTech-Unternehmen aktuell sehr stark zu kämpfen. Das liegt zum einen an stetig steigenden regulatorischen Anforderungen beispielsweise aus dem Umweltrecht mit seinen Stoffverboten oder durch die EU-Medizinprodukte-Verordnung MDR. Zum anderen liegt es natürlich an den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Unsere Unternehmen leiden vor allem unter der Verschiebung planbarer Operationen, unter weniger Arztbesuchen und damit auch weniger Verordnungen.

Umsatzrückgänge von 30, 40 Prozent sind hier keine Seltenheit – und für KMUs absolut existenzbedrohend.
Überbrückungshilfen aus dem 25-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung gibt es dagegen erst ab 60 Prozent Umsatzrückgang. Das ist aus unserer Sicht zu hoch angesetzt.

Wir hoffen, dass die Corona-Krise – so schlimm wie sie ist – aber auch einen positiven Effekt hat:

Denn sie hat sehr deutlich gezeigt, wie unentbehrlich Medizinprodukte für die Gesundheitsversorgung der Menschen sind. Dabei geht es um so unterschiedliche Bereiche wie medizinische Schutzprodukte, Desinfektions- und Hygieneprodukte, moderne Technologien für die intensivmedizinische Betreuung oder telemedizinische Anwendungen.

Produktions- und Lieferstopps aus dem asiatischen Raum sowie fehlende Produktionskapazitäten in Deutschland und Europa haben in kürzester Zeit zu Beeinträchtigungen der Lieferfähigkeit von notwendigen Medizinprodukten geführt. Das haben wir sofort in der Patientenversorgung gespürt.

Jeder hat gesehen: Medizinprodukte sind systemrelevant. Die MedTech-Branche ist systemrelevant.

Entfernen Sie Medizinprodukte aus der Klinik, der Arztpraxis, dem Rettungswagen – und es bleibt nicht viel übrig. Unsere Produkte sind unverzichtbar, das haben wir alle in diesen Monaten gelernt.

Die Corona-Krise hat auch deutlich gemacht, wie komplex die Lieferketten und Produktionsnetzwerke der Medizinprodukte-Branche sind.

Kleine Eingriffe haben hier eine große Wirkung. Die von einzelnen Staaten – auch von Deutschland – verhängten Exportbeschränkungen waren ein großer Fehler.

Deutschland ist beispielsweise für viele Produkte der Hauptumschlagplatz für ganz Europa. Viele MedTech-Unternehmen betreiben in Deutschland zentrale Lager. Bei OP-Sets kommt hinzu, dass Teile der Produktion in Deutschland, die Endfertigung aber in Tschechien oder Polen stattfindet. Der freie Warenverkehr ist deshalb essentiell für die Sicherstellung der Versorgung durch Medizinprodukte.

Die Regierung hat auf unsere Kritik schnell reagiert, uns zu einem Krisengipfel ins Ministerium eingeladen und die Beschränkungen innerhalb weniger Tage zurückgenommen.

Ganz klar: Wir hätten uns gewünscht, unsere Expertise wäre vorher einbezogen worden. Das muss in Zukunft besser werden.

Unsere Lehren und Forderungen aus dieser Erfahrung:

Wir müssen auch in Krisenzeiten unbedingt einen weltweiten freien Warenverkehr sicherstellen.
Die globalen Lieferketten dürfen nicht durch staatliche Eingriffe unterbrochen werden. Wir brauchen hier gute vertragliche Lösungen und Handelsabkommen.

Wir müssen Handelsbarrieren abbauen und Zollverfahren vereinfachen.
Dazu gehört auch, dass wir sehr zeitnah gegenseitige Abkommen mit der Schweiz und Großbritannien abschließen – Märkte, die für uns strategisch sehr wichtig sind.

Zugleich werden schon jetzt zusätzliche Produktionskapazitäten in Deutschland von unseren Unternehmen aufgebaut. Das muss unbürokratisch gefördert werden. Wenn es Abschreibungsmöglichkeiten oder garantierte Abnahmemengen zu fairen Preisen gibt, dann können neue Produktionslinien von unseren Unternehmen auch innerhalb von drei bis vier Monaten aufgebaut werden.

Jetzt reden wir im nächsten Schritt über eine Notfallreserve.
Im Wording des Bundesgesundheitsministeriums heißt das „Nationale Reserve Gesundheitsschutz“.

Hier muss unbedingt die logistische Expertise der MedTech-Branche eingebunden werden. Einen guten Startpunkt hatten wir vor einigen Wochen mit einem Gespräch im Bundesgesundheitsministerium.

Wir haben dem BMG verdeutlichen können:
Zu Beginn der Corona-Krise kam es zu einer Nachfrage-Explosion für einige Medizinprodukte und Pharmazeutika zur Intensivbehandlung. Spontane und multiple Bestellungen führten zu Lieferengpässen.
Zudem kam es zu einer Kettenreaktion durch „protektionistische“ Aktivitäten einiger Staaten. Aber: Für über 80 Prozent aller kritischen Produkte gibt es keinen Mangel, sondern ein Verteilungsproblem.

Unser Lösungsangebot ist eine „Digitale Bestandsplattform Versorgungskritischer Medizinprodukte“.

Die Entwicklungsschritte hin zu einer digitalen Bestandsplattform sind aus unserer Sicht:

  1. Definition kritischer Arznei- und Medizinprodukte
  2. Ermittlung von Produkten/Rohmaterialien mit fehlender EU-Produktionskapazität
  3. Nutzung eines einheitlichen global eingeführten Produktidentifikationsstandards und Klassifikationsstandards
  4. Festlegung der Teilnehmer an der Bestandsplattform und Zugänglichkeit
  5. Aufsetzen eines Pilotprojektes
  6. Strategie zur Vermeidung von außereuropäischen Abhängigkeiten

Wir haben zu diesem Thema mittlerweile eine Industrieallianz aus Pharma und Medtech gebildet, mit der wir in die nächsten Gespräche mit dem Ministerium gehen. Dabei sind beispielsweise der BPI und Spectaris.

Die Industrie muss hier auch weiterhin eingebunden werden. Wir stehen für smarte Lösungen bereit.

Ich will noch auf einige weitere Aspekte eingehen, die uns für die Bewältigung der COVID-19-Folgen wichtig sind:

Wir brauchen Verbesserungen bei den regulatorischen Rahmenbedingungen – beispielsweise durch virtuelle Fernaudits.
Denn die Herausforderungen bei der Implementierung der EU-Medizinprodukte-Verordnung MDR haben sich durch COVID-19 verstärkt. Die aus der Pandemie resultierenden Reise- und Quarantäne-Beschränkungen beeinträchtigen das Inverkehrbringen von Medizinprodukten, da für die nötige Zertifizierung Vor-Ort Audits vorgesehen sind. Wir brauchen hier Alternativlösungen.

Wir müssen die Krise als Innovationstreiber nutzen.
Zur Abmilderung der Krisenschäden in der Wirtschaft wurden in kürzester Zeit bürokratische Erleichterungen beschlossen und sehr praktikable digitale Lösungen ermöglicht. Insofern ist die Krise auch ein Innovationstreiber. Die Erleichterungen für die Wirtschaft, die sich als wirksam erwiesen haben, sollten nach der Krise beibehalten und sogar ausgeweitet werden. Dazu gehören auch telemedizinische Lösungen sowie flexiblere Lösungen bei der Verordnung von Hilfs- und Verbandmitteln.

Wir brauchen eine Entbürokratisierungs-Offensive durch digitale Lösungen.
Die inzwischen überbordende Bürokratie und Reglementierung sollte jetzt insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden. Wir sollten die Krise dazu nutzen, Auflagen und Einschränkungen zu reduzieren, praktikabler zu gestalten oder wo möglich ganz abzuschaffen. Digitalisierung und bessere Datennutzung können hier helfen.

Mein Schlussappell:
Mittel- und langfristig benötigen wir einen gesamtgesellschaftlichen Dialog über die Bedeutung des MedTech-Standorts Deutschland und ein Konjunkturprogramm für die überwiegend mittelständisch geprägte Medizinprodukte-Branche – möglichst abgestimmt auf europäischer Ebene.

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