- Trends Die wichtigsten Trends in der Medizintechnik für das Jahr 2024 aus Elektronik Praxis Online
ArtikelKulmbach, 23.01.2024
Wirtschaftskrise, Inflation und steigende Preise werfen lange Schatten auf das neue Jahr 2024. Wie sieht die Zukunft des Medizintechnikmarktes in diesem Jahr aus? Das Healthcare- und Life-Sciences-Team des EMS-Experten Plexus wagt einen Blick auf mögliche Treiber, Trends und Fallstricke.
Die Medizintechnik in Deutschland steht unter einem enormen Druck – einem enormen Kostendruck. Zwar rechnen laut einer Herbstumfrage des BVMed zwei Drittel der MedTech-Unternehmen in Deutschland mit einem besseren Umsatzergebnis als im Jahr 2022, die Werte reichen aber noch nicht an die Jahre vor der Pandemie heran. Mit einem durchschnittlichen Umsatzwachstum von 4,8 Prozent schneidet der deutsche Markt zudem deutlich schlechter ab als der Rest der Welt (6,4 Prozent). Immerhin 19 Prozent rechnen bis 2023 mit einem Umsatzrückgang.
Kein Wunder also, dass die Medizintechnikhersteller auch bei den Investitionen auf die Bremse treten und die Ausgaben für Forschung und Entwicklung kürzen. Zudem setzt sich der Trend zur Deindustrialisierung fort: Immer mehr Unternehmen schließen ihre heimischen Produktionsstätten, weil Energiepreise, Personalkosten und Compliance-Aufwand steigen. Damit rückt die Kosteneffizienz – die im Kontext der Supply Chain- und Covid-19-Krise zwischenzeitlich etwas an Dringlichkeit verloren hatte – wieder ganz oben auf die Agenda der Hersteller.
Die Gründe für den Kostendruck sind vielfältig und lassen sich in drei Hauptkategorien unterteilen:
- Globale Faktoren: Dazu gehören die steigenden Energie- und Rohstoffpreise, die durch den Krieg in der Ukraine noch weiter angeheizt wurden. Auch die Inflation und die steigenden Zinsen treiben die Kosten für die Unternehmen in die Höhe.
- Branchenspezifische Faktoren: In der Medizintechnik spielen zudem die zunehmende Regulierung, insbesondere durch die europäische Medizinprodukteverordnung (MDR), und der Fachkräftemangel eine Rolle. Die MDR führt zu höheren Kosten für die Zulassung und Produktion von Medizinprodukten. Der Fachkräftemangel erschwert es den Unternehmen, qualifiziertes Personal zu finden und zu halten.
- Nationale Faktoren: In Deutschland kommt noch der hohe Steuer- und Abgabendruck hinzu.
Auslagerung von Entwicklung, Produktion und Supply Chain
Sparen allein ist keine erfolgreiche Strategie in der Kostenkrise. Vielmehr werden die Hersteller im Jahr 2024 Entwicklung, Produktion und Supply Chain weiter auslagern, externe Partner stärker in das eigene Mitarbeiterteam integrieren und bürokratische Compliance-Aufgaben so weit wie möglich an Dritte auslagern. Durch Outsourcing gewinnen Unternehmen zudem die dringend benötigte Flexibilität und Schnelligkeit, um im aktuellen Wettbewerbsumfeld innovativ zu sein und sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren.
Gerade für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die immerhin 93 Prozent der Industrie ausmachen, wird diese Strategie zur Überlebensfrage.
Damit rücken neue Herausforderungen in den Vordergrund: Wer seine Produktion in kostengünstigere Länder verlagert, muss nicht nur weiterhin hohe Qualitäts- und Compliance-Standards erfüllen, sondern diese auch remote sicherstellen. Wer für die Entwicklung von Medizinprodukten externe Ingenieure und Softwareentwickler an Bord holt, muss noch mehr als bisher auf Datensicherheit, Cyber Security und den Schutz geistigen Eigentums achten. Outsourcing ist keine Eintagsfliege. Eine langfristige Strategie und eine sorgfältige Auswahl des Partnernetzwerks sind daher entscheidend.
Supply Chain: Widerstandsfähig, aber hoch bürokratisch
Eine gute Nachricht für 2024: Die Supply Chain scheint sich weiter zu erholen. In den letzten Jahren haben die Hersteller von Medizinprodukten an der Widerstandsfähigkeit ihrer Lieferketten gearbeitet, eigene Sicherheitsbestände aufgebaut und ihre Produktion entweder ganz zurückgeholt (Re-Shoring) oder in die Nähe verlagert (Nearshoring). Lieferengpässe bleiben freilich ein Ärgernis. Eine radikale Neuausrichtung der Supply Chain, wie sie noch vor zwei Jahren denkbar war, scheint aber nicht mehr notwendig.
Exemplarisch für diesen Aufwärtstrend ist der Halbleitermarkt. Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2023 haben sich Angebot und Verfügbarkeit verbessert. Vorlaufzeiten, Kosten und Marktdynamik zeigen sich bisher stabil. Dieser Trend dürfte sich in den kommenden Monaten fortsetzen.
Dennoch verschwindet die Supply Chain nicht gänzlich von der Sorgenliste der Hersteller. Ab dem 1. Januar 2024 gilt in Deutschland erstmals das Gesetz zur Sorgfaltspflicht in der Lieferkette (LkSG) für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern. Auf EU-Ebene soll in den nächsten Monaten ein noch strengeres Gesetz in Kraft treten. Der Richtlinienentwurf dazu wurde bereits im Sommer 2023 verabschiedet.
Künstliche Intelligenz in der Medizin
Ein Thema, das auf keiner Trendliste 2024 fehlen darf und auch in der Medizintechnik an Bedeutung gewinnt, ist die Künstliche Intelligenz (KI). Rechtliche Rahmenbedingungen für den sicheren Einsatz von KI-Technologien in einem hochsensiblen Bereich wie der Medizin und dem Gesundheitswesen sind entweder lückenhaft, unausgereift oder lassen auf sich warten. Der im Juni 2023 verabschiedete Artificial Intelligence Act (kurz: AIA) beispielsweise wird voraussichtlich erst in zwei bis drei Jahren greifen. MedTech-Unternehmen müssen aber jetzt eine KI-Strategie entwickeln, wenn sie von der Technologie profitieren und wettbewerbsfähig bleiben wollen.
KI ist dabei mehr als nur ein Chatbot à la ChatGPT. Mit Fotos trainierte künstliche neuronale Netze (KNN) können bereits heute Melanome und Karzinome klassifizieren und Hautkrebs frühzeitig erkennen. Chirurgische Roboter unterscheiden dank maschineller Bildverarbeitung zwischen verschiedenen Gewebearten. Large Language Models (LLMs) erleichtern Ärzten den Zugang zu wichtigen Informationen. Und Generative KI (GenAI) entlastet medizinisches und pflegerisches Personal im Gesundheitswesen bei der Dokumentation und Überwachung.
Für MedTech-Hersteller hat KI neben dem Innovationsschub bei den Produkten massive Auswirkungen auf Produktion, Entwicklung und Supply Chain. Denn mit und durch KI lassen sich auch KI-Lösungen für die Medizintechnik schneller entwickeln, realisieren und auf den Markt bringen. Im Halbleitermarkt soll beispielsweise die Microsoft-KI künftig selbst das Design der geplanten Microsoft-KI-Chips übernehmen. Hersteller werden in den nächsten Jahren verstärkt in die KI-Fähigkeit ihrer Standorte investieren oder alternativ auf Partner mit entsprechenden Kapazitäten und Know-how setzen.
KI wird bereits in einer Vielzahl von medizinischen Anwendungen eingesetzt:
- Diagnostik: KI-gestützte Systeme können bei der Analyse von Bilddaten, wie Röntgen-, CT- und MRT-Bildern, helfen, Krankheiten frühzeitig zu erkennen.
- Behandlung: KI-gestützte Systeme können bei der Planung und Durchführung von Operationen helfen, die Sicherheit und Effizienz der Behandlung zu verbessern.
- Prävention: KI-gestützte Systeme können bei der Entwicklung von personalisierten Präventionsstrategien helfen, die Wahrscheinlichkeit von Krankheiten zu verringern.
Thema Nachhaltigkeit in der Medizinbranche
Der soziale, ökonomische und ökologische Fußabdruck der Medizintechnik ist nach wie vor groß. Laut der SEE-Impact-Studie ist die Branche allein in Deutschland für den Ausstoß von 8,9 Mio. Tonnen Treibhausgasen verantwortlich. Mehr als 60 Prozent der Emissionen entstehen dabei indirekt in den globalen Lieferketten. Auch der Anteil an Einweggeräten und Verbrauchsmaterialien ist vergleichsweise hoch. Entsprechend hoch ist die Relevanz des Themas Nachhaltigkeit für die Hersteller. Die Nachfrage nach Product Sustainability Solutions steigt seit Jahren kontinuierlich und wächst parallel zu den regulatorischen Anforderungen in der EU.
Strategien zur Dekarbonisierung zielen daher zukünftig verstärkt auf alle Phasen des Produktlebenszyklus ab. Von energieeffizientem Design, umweltfreundlichen Industrieanlagen und CO2-armen Lieferketten über recycelbare Materialien und weniger Verpackung bis hin zur Rückführung von Bauteilen im Sinne einer Kreislaufwirtschaft. Mit Lebenszyklus-Analysen (LCA) können Unternehmen die Auswirkungen eines Produkts auf die Umwelt messen und die erreichte Ökobilanz als Produkteigenschaft vermarkten. Über kurz oder lang wird Nachhaltigkeit jedoch ihr Alleinstellungsmerkmal verlieren und zur Normalität werden.
Bürokratischer und regulatorischer Druck auf die Medizintechnik
Der bürokratische und regulatorische Druck auf die Medizintechnik nimmt 2024 weiter zu. Neben branchenübergreifenden Anforderungen an die Lieferkette, Nachhaltigkeit, Cybersecurity und den Einsatz von KI kämpfen die MedTech-Hersteller weiterhin mit der Umsetzung der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR). Zwar wurden Fristen und Anwendungsbereiche auf Druck der Verbände verlängert und nachjustiert. Die neuen Formulierungen und Wechselwirkungen mit anderen Vorschriften führten jedoch zu komplizierten und teilweise schwer verständlichen Übergangsregelungen, so der VDE Health.
Ein Lichtblick im Compliance-Dschungel ist dagegen das Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz (GDNG). Es soll bürokratische und organisatorische Hürden bei der Datennutzung abbauen, ohne den Datenschutz zu gefährden. Vorgesehen ist, dass auch kommerzielle Unternehmen umfassende und repräsentative Gesundheitsdaten aus der elektronischen Patientenakte (ePA) für die Forschung an innovativen Arzneimitteln und Medizinprodukten nutzen können. Der dadurch erhoffte Innovationsschub würde sich in der Folge auch positiv auf den Medizintechnik- und Life-Science-Standort Deutschland auswirken.