- Forschung-Entwicklung PD Dr. Frank Seehaus und Dr. Ulrike Deisinger: Interdisziplinär arbeiten
Was sind Voraussetzungen für eine moderne Medizintechnik, die es Menschen ermöglicht, auch in Zukunft mobil zu bleiben? PD Dr. Frank Seehaus und Dr. Ulrike Deisinger sind sich einig: Neben innovativen Konzepten braucht es vor allem interdisziplinären Austausch und praxisnahe Lehre.
ArtikelWeisendorf/Franken, 03.05.2023
Endlich wieder schmerzfrei gehen oder sogar Sport treiben – künstliche Gelenke geben vielen Menschen Mobilität und Lebensqualität zurück. Aber die Ansprüche steigen, die Patient:innen werden immer jünger und die Prothesen müssen öfter ausgetauscht werden. Wenn der künstliche Gelenkersatz nicht mehr so funktioniert, wie er soll, kommen Dr. Frank Seehaus und Dr. Ulrike Deisinger zum Einsatz: Sie sind Spezialist:innen für Revisionsendoprothetik bei PETER BREHM, einem der führenden Hersteller von Endoprothesen und Wirbelsäulenprodukten. Im gemeinsamen Interview sprechen sie über die Rahmenbedingungen für eine leistungsfähige und zukunftsorientierte Medizintechnik.
Herr Dr. Seehaus, Sie leiten den Bereich Forschungs- und Innovationsmanagement bei PETER BREHM. Frau Dr. Deisinger, Sie sind dort für den Bereich Werkstoffwissenschaften verantwortlich. Erzählen Sie uns, was Sie dazu motiviert hat, eine Karriere in der Medizintechnik anzustreben.
Seehaus: Ich habe ursprünglich Sportwissenschaften und Informatik studiert. Schon während des Studiums hat mich die Biomechanik begeistert, insbesondere die angewandte Biomechanik. Meine Begeisterung für die „In-vivo-Diagnostik“, also mit biomechanischen Messmethoden etwas am Menschen objektiv zu erfassen, wurde hier geweckt. Eigentlich wollte ich in die Sportbiomechanik gehen, bin dann aber auf Anraten meines Betreuers aus der Diplomarbeit in die Orthopädie gewechselt. Im Bereich der klinischen Biomechanik bzw. der experimentellen Orthopädie habe ich dann promoviert und habilitiert.
Deisinger: Ich bin Werkstoffingenieurin und habe mich schon während meines Studiums für Biomaterialien und Medizintechnik interessiert und in diesem Bereich auch promoviert. Ich finde es sehr spannend, an der Entwicklung von Materialien und Implantaten mitzuwirken und die Wechselwirkung dieser Materialien mit dem Körpergewebe zu erforschen.
Welche Eigenschaften sind für eine Karriere als Forscher:in in der Medizintechnik besonders wichtig?
Deisinger: Man braucht durchaus viel Eigenmotivation, Flexibilität, aber auch Neugier. Gerade, wenn man in der Forschung arbeiten will, muss man einfach neugierig sein: Was machen die anderen Disziplinen? Wo geht die Entwicklung hin? Das erfordert lebenslanges Lernen, das wir täglich leben – unter anderem durch den berühmten Blick über den Tellerrand. Gut für den technischen Bereich ist auch ein analytisches Denken. Denn insbesondere in den präklinischen Tests erhalten wir viele Daten, die wir analysieren und interpretieren müssen. Die Bereitschaft zum internationalen Austausch ist ebenso essenziell – daraus können sich neben beruflichen Netzwerken auch persönliche Freundschaften entwickeln.
Seehaus: Zu den bereits genannten Eigenschaften möchte ich noch das Teamplay ergänzen. Aber auch das eigenverantwortliche Arbeiten ist eine sehr wichtige Eigenschaft.
Bei PETER BREHM forschen Sie beide an der Entwicklung von Endoprothesen und deren Oberflächenmodifikation. Welche Rolle spielt Teamarbeit in Ihrem Alltag?
Seehaus: Die Medizintechnik ist interdisziplinär. Das bedeutet, dass wir in diesem Bereich Kenntnisse aus Technik und Medizin zusammenführen. Dafür brauchen wir Teamfähigkeit, denn wir müssen mit anderen Fachdisziplinen sprechen, vor allem aus der Medizin, den Ingenieurwissenschaften und der Betriebswirtschaft. Wichtig ist, dass man sich dabei auf Augenhöhe unterhält, egal welche Disziplin vertreten ist, denn jeder ist Expertin bzw. Experte auf seinem Gebiet.
Deisinger: Ja, das kann ich absolut bestätigen. Wir arbeiten im Unternehmen sehr eng mit den Kolleg:innen aus der Entwicklung und der Fertigung zusammen. Die konstruieren und stellen ein Implantat aus industrieller Sicht her und haben daher oft eine ganz andere Sichtweise als wir. Natürlich müssen wir auch eng mit der Qualitätssicherung und der Zulassungsabteilung zusammenarbeiten. In den Forschungs- und Innovationsprojekten, in denen wir mit externen Partner:innen kooperieren, kommen dann noch Mediziner:innen und Anwender:innen hinzu. Der Arbeitsalltag ist also sehr vielschichtig, abwechslungsreich und interdisziplinär. Das macht es aber auch so spannend.
Seehaus: Es ist nicht der oder die Einzelne, sondern es ist das ganze Konstrukt einer Firma, die verschiedenen Fachabteilungen Regulatory Affairs, Entwicklung, Produktion, Materialwirtschaft und so weiter, bis hin zum Vorstand, die alle zusammen dafür verantwortlich sind, dass unser Produkt erfolgreich ist und dass es auch erfolgreich auf den Markt kommt. Das geht nur im Team, nicht als Einzelperson. Gerade in einem mittelständischen Familienunternehmen hat man im Team die einzigartige Möglichkeit, die Entwicklung eines Medizinproduktes von der Idee bis zum fertigen Endprodukt aktiv mitzugestalten. In einem Großkonzern mit begrenzten Aufgabengebieten und langen Wegen ist dies eher weniger möglich.
Sie haben es gerade schon gesagt: Sie arbeiten einerseits im Unternehmen disziplinübergreifend. Ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit ist es aber auch, gemeinsam mit dem medizinischen Fachpersonal sicherzustellen, dass Ihre Produkte dem Bedarf der Patient:innen entsprechen. Wie gehen Sie dabei vor?
Seehaus: Damit ein künstlicher Gelenkersatz funktioniert, braucht es folgende Faktoren: ein gutes Implantat, eine:n gute:n Operateur:in mit einer guten Operationstechnik und eine:n „mitarbeitende:n“ Patienten bzw. Patientin. Außerdem eine:n gute:n Physiotherapeuten bzw. Physiotherapeutin. Das alles muss zusammenspielen, dann haben wir in der Regel auch ein gutes Ergebnis. Wir befinden uns fast täglich im engen Austausch mit unseren Kund:innen und sind aus diesem Grund immer wieder in der Lage, bestimmte Weiterentwicklungen und Verbesserungen an unseren Implantaten und Instrumenten vorzunehmen. Darüber hinaus machen wir uns Gedanken, wie wir klinische Probleme noch besser in den Griff bekommen können. Wenn wir intern Ideen und Konzepte entwickelt haben, um diese Probleme zu lösen, holen wir uns wiederum Feedback von den Anwender:innen. Ich befürworte es, dass Produktmanager:innen, Konstrukteur:innen und natürlich auch wir in unserer Funktion regelmäßig mit im OP-Saal anwesend sind, um ein besseres Gespür für die Gestaltung unserer Produkte zu erhalten.
Der Wissensaustausch spielt also eine große Rolle. Herr Dr. Seehaus, Sie sind auch in der Lehre tätig und halten Lehrveranstaltungen zur Medizintechnik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Was ist aus Ihrer Sicht besonders wichtig für die Ausbildung von Fachkräften in der Medizintechnik?
Seehaus: Ich versuche immer, die Studierenden für unser Fach zu begeistern, und ich finde es wichtig, dass die Lehre gefördert wird. Wenn man sich heute die Hochschullandschaft anschaut, zählt hier die leistungsorientierte Mittelvergabe mit dem Fokus auf eingeworbenen Drittmitteln und Publikationsleistungen. Aber insbesondere gute Lehrveranstaltungen sollten deutlich mehr gefördert werden. Es braucht Menschen, die für das Thema brennen und die Studierenden faszinieren können. Nur dann ist es auch eine Bereicherung für die zukünftigen Ingenieur:innen. Ich versuche, das mit meinen Veranstaltungen umzusetzen. Ob es mir gelingt, kann ich leider nicht erheben. Aber viele meiner Absolvent:innen, zu denen ich noch Kontakt habe, sind in der Medizintechnik gelandet und sind dort sehr glücklich und zufrieden.
Deisinger: Ich hatte an der Uni auch einen Dozenten, der wahnsinnig begeistert von den Biomaterialien war. Es ist toll, dass teilweise Vertreter:innen aus der Industrie, wie Frank, noch Vorlesungen oder Seminare halten und die Begeisterung in die Hochschule tragen. Das kommt auch bei den Studierenden immer sehr gut an.
Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der eine Karriere in der Medizintechnikforschung anstrebt?
Seehaus: Ich habe meinen Studierenden immer gesagt: Ihr lernt viel an der Uni, aber in der Praxis wird oft etwas Zusätzliches verlangt. Zum Beispiel klinische Bewertungen für Medizinprodukte zu schreiben. Das lernt man oft nicht im Medizintechnikstudium, sondern erst im Job. Deshalb empfehle ich immer, in Unternehmen hineinzuschnuppern, beispielsweise durch eine Hospitation, ein Praktikum oder eine Werkstudierendentätigkeit. Dann merkt man schnell: Ist das, was ich da studiere, auch das Richtige für mich? Zudem spielen die Globalisierung und die internationale Vernetzung eine wichtige Rolle. Daher ist es von Vorteil, ein Semester im Ausland zu studieren. Dabei werden nicht nur die sprachlichen Fähigkeiten erweitert, sondern auch die sozialen Kompetenzen durch den Einblick in einen anderen Kulturkreis und andere Ausbildungsformen.
Das klingt so, als sähen Sie hier noch Potenzial für mehr Praxisbezug im Studium. Gibt es sonst noch Aspekte, die Sie sich für den Forschungsstandort Deutschland wünschen?
Seehaus: Ich sage es mal so: Wir sind nicht schlecht, aber es gibt noch Luft nach oben. Der Forschungsstandort Deutschland zeichnet sich durch eine gut vernetzte Community kompetenter medizinischer und wissenschaftlicher Fachkräfte und innovativer mittelständischer Unternehmen aus. Wir haben jedoch die Sorge, dass im Zuge der Medical Device Regulation und des damit verbundenen erhöhten bürokratischen Aufwands innovative Produktneuentwicklungen und Forschung national auf der Strecke bleiben und in andere Länder, wie zum Beispiel die USA, abwandern. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass mehr in den Nachwuchs investiert wird. Das sehe ich bei uns im Unternehmen: Man nimmt bewusst junge Leute, um ihnen auch die Möglichkeit zu geben, sich weiterzubilden. Eines unserer erklärten Ziele ist es, international noch präsenter zu werden. Es ist immer wichtig, das Globale im Blick zu haben: Wo sind welche Trends in der Endoprothetik zu erkennen, wo geht die Forschung und Entwicklung hin? Da dürfen wir nicht nur in unseren eigenen vier Wänden schauen, sondern müssen auch den internationalen Austausch pflegen. Oder wie es so schön heißt: „Think global, act local.“
Deisinger: Vollkommen richtig! Wir müssen international vernetzt sein. Aber trotzdem ist es wichtig, dass wir eine nationale Forschungsförderung in Deutschland haben, damit wir eben auch international bestehen können. Allerdings wird es zunehmend schwieriger, Fördermittel zu erhalten. Außerdem fehlt an den Universitäten immer mehr der Mittelbau. Es wird viel Geld investiert, um immer mehr Professor:innenstellen zu schaffen. Dann kommen die Doktorand:innen und dazwischen gibt es immer weniger Menschen, die im Labor stehen und die einzelnen Geräte bedienen. Wir als Industrie brauchen aber verlässliche Partner:innen, auch an den Universitäten, die das Know-how über mehrere Jahre dort halten.