- Gesetzgeber gefragt Bundessozialgericht und Krankenkassen höhlen Innovationsregelung (NUB) im Krankenhaus aus
Artikel06.10.2014
Gastbeitrag von Dr. Christian Stallberg, Clifford Chance, in f&w 9/2014
Bundessozialgericht und Krankenkassen höhlen Innovationsregelung im Krankenhaus aus – Gesetzgeber ist beim geplanten zweiten Versorgungsstrukturgesetz gefragt
Obwohl neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus gemäß § 137c SGB V eingesetzt werden dürfen, solange der Gemeinsame Bundesausschuss sie nicht negativ bewertet hat, geht die Prüfpraxis der Krankenkassen in eine andere Richtung. Vielfach lehnen sie es nachträglich ab, derartige Methoden zu bezahlen, wenn sie noch nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Möglich macht dies die jüngere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Sie verkehrt die Vorschrift des § 137c Abs. 1 SGB V in ihr Gegenteil. Dies führt nicht nur zu großen Unsicherheiten bei den Krankenhäusern, sondern vor allem zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung. Es ist dringend erforderlich, dass der Gesetzgeber einschreitet. Das geplante zweite Versorgungsstrukturgesetz bietet hierfür Raum.
Gleicher Zugang zu Innovationen im Krankenhaus
Bis Ende 1999 standen innovative neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden den Patienten im Krankenhaus nicht bundeseinheitlich zur Verfügung. Ein regionaler und krankenkassenabhängiger "Flickenteppich" sorgte für große Unterschiede in der Versorgung. Dies führte zu einer ungleichen Behandlung der Patienten in Deutschland. Grund hierfür war, dass es an einem gesetzlichen Verfahren fehlte, das den Zugang innovativer Methoden zur Krankenhausversorgung einheitlich und zentral regelte. Stattdessen war es Aufgabe der einzelnen Krankenkassen, für jeden Behandlungsfall zu prüfen, ob die eingesetzte Methode dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach. Da es sich um eine Wertungsfrage handelt, hing die Versorgung von der Prüfpraxis der betreffenden Krankenkasse ab. Eine einheitliche Regelversorgung aller Patienten im Krankenhaus konnte es so nicht geben.
Diesen Zustand hielt der Gesetzgeber mit Recht für nicht akzeptabel. Mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz schaffte er im Jahr 2000 daher Abhilfe und führte § 137c in das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ein. Anknüpfend an Regelungen im ambulanten Bereich wurde dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) die alleinige Zuständigkeit verliehen, neue stationäre Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu bewerten. Diese Alleinzuständigkeit sollte Versorgungsunterschiede in der Krankenhauslandschaft beseitigen.
Der Gesetzgeber ging noch einen Schritt weiter. Anders als in der vertragsärztlichen Versorgung sollten neue innovative Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bis zu einer negativen Bewertung zunächst zum Leistungskatalog der GKV gehören. Damit trug der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass im Krankenhaus aufgrund der Behandlungsstrukturen ein wirksamer Schutz vor schädlichen oder unwirksame Methoden existiert. § 137c SGB V sollte so nicht nur einen einheitlichen, sondern auch frühzeitigen Zugang der Patienten zu innovativen Diagnose- und Therapieoptionen im Krankenhaus gewährleisten. Regelungstechnisch spricht man von einer Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt.
Bundessozialgericht: Keine Prüfung durch die Krankenkassen
Die neu geschaffene Vorschrift erreichte schnell ihren Zweck. Den Krankenkassen und ihren Medizinischen Diensten war nicht mehr möglich, den Abrechnung einer neuen Methode nur deshalb zu verweigern, weil sie aus ihrer Sicht nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach. Auch das Bundessozialgericht bestätigte dies in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2003 (Az.: B 1 KR 1/02 R).
Darin stellte das Gericht fest, dass die Krankenkassen nicht die Bezahlung einer Methode im Krankenhaus verweigern dürfen, nur weil die jeweilige Methode noch nicht hinreichend erprobt oder in ihrem Nutzen belegt sei. Eine solche Vorgehensweise werde durch § 137c SGB V verschlossen. Hiermit werde gewährleistet, dass der Nutzen einer neuen Methode durch den G-BA abschließend geklärt werde, nicht jedoch von Fall zu Fall durch die Krankenkasse oder ein Gericht entschieden werde. Der Gesetzgeber wolle verhindern, dass in jedem Einzelfall neu, wohlmöglich mit unterschiedlichem Ergebnis, entschieden werde. Eine solche Vorgehensweise, so das Bundessozialgericht, sei auch sachgerecht. Die Gefahr, dass zweifelhafte oder unwirksame Methoden eingesetzt werden könnten, sei im Krankenhaus "schon wegen der internen Kontrollmechanismen und der anderen Vergütungsstrukturen geringer als bei der Behandlung durch einzelne niedergelassene Ärzte."
Unterlaufen des § 137c SGB V durch Kehrwende in der Rechtsprechung
Diese "heile Welt" währte nur wenige Jahre. Ein abruptes Ende bereitete ihr das Bundessozialgericht in einer überraschenden Entscheidung aus dem Jahr 2008 (Az.: B 1 KR 5/08 R). Unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung stellte es fest, dass im stationären Bereich die Krankenkassen und die Gerichte prüfen dürften, ob eine eingesetzte Methode in ihrer Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspräche. Gesetzlich nachvollziehbar war dies jedoch nicht. Denn damit wurde nicht nur die gesetzliche Alleinzuständigkeit des G-BA unterlaufen, sondern zugleich die bezweckte Förderung des Einsatzes derartiger Methoden aus den Angeln gehoben.
Da sich der Rechtsstreit um den Abschluss eines Versorgungsvertrags drehte, blieben diese Aussagen in der Praxis weitgehend unbeachtet. Auch bestand in juristischen Kreisen die Hoffnung, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handelte, die aufgrund der besonderen Umstände des Falls motiviert war. Diese Hoffnung wurde zwar kleiner, als das Bundessozialgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2010 (Az.: B 1 KR 10/09 R) diesen Standpunkt wiederholte. Allerdings spielte dieser Gesichtspunkt in der Entscheidung nur am Rande eine Rolle. Bei den Krankenkassen, Krankenhäusern und Patienten blieb der Wandel in der Rechtsprechung daher weitestgehend unbemerkt.
Dies änderte sich erst, als das Bundessozialgericht im März 2013 über die Abrechenbarkeit der in-vitro-Aufbereitung autologer peripherer Blutstammzellen entscheiden musste. Zwischen den Parteien war unstreitig, dass diese Behandlung (noch) nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach. Die zentrale Frage des Falles war also: kommt es darauf überhaupt an? Das Gericht bejahte dies. Ungeachtet der Vorschrift des § 137c SGB V dürften Krankenkassen und Gerichte im Einzelfall Qualität und Wirksamkeit einer Methode überprüfen.
Überzeugende Gründe lassen sich dem Urteil nicht entnehmen. Der Einwand, auch im Krankenhaus gelte das Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot, verfängt nicht. Selbstverständlich gilt dieser Prüfmaßstab auch im Krankenkaus. Aber was folgt daraus? Die Frage ist ja, wer diesen Maßstab überprüft – und dies ist allein der G-BA. Anders als das Gericht meint, führt § 137c SGBV auch nicht dazu, dass die Krankenkassen keine Abrechnungsprüfung mehr vornehmen dürften. Natürlich dürfen sie dies. Doch bleibt die Prüfung eben auf Punkte beschränkt, die nicht Qualität und Wirksamkeit der neuen Methode betreffen, also z.B. das Vorliegen der Indikationsstellung beim Patienten.
Gravierende Rechtsunsicherheiten bei den Beteiligten
Die Sichtweise des Bundessozialgerichts führt zu großen Unsicherheiten bei allen Beteiligten. Der Zustand, den der Gesetzgeber mit § 137c SGB V hat beseitigen wollen, führt das Gericht eigenmächtig wieder ein. Die Krankenkassen entscheiden hiernach also wieder selbst und im Einzelfall, ob die jeweils eingesetzte Methode nach ihrer Auffassung dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Doch wozu führt das? Da es sich um eine Wertungsfrage handelt, ist eine je nach Region und Krankenkasse unterschiedliche Versorgung der Patienten im Krankenhaus vorprogrammiert. Die Alleinzuständigkeit und Kompetenz des G-BA für derartige Bewertungen wird unterlaufen.
Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Der Gesetzgeber wollte mit § 137c SGB V nicht nur eine einheitliche Behandlung mit neuen innovativen Methoden im Krankenhaus sicherstellen. Darüber hinaus sollte es – in Abgrenzung zum ambulanten Bereich – möglich sein, dass derartige Methoden zunächst einmal im Krankenhaus zu Lasten der Kostenträger erbracht werden dürfen. Mit anderen Worten: Die Förderung neuer und innovativer Behandlungsansätze im Krankenhaus war wesentliches Ziel der Regelung. Dies wurde nicht nur damit gerechtfertigt, dass im Krankenhaus besondere Kontrollmechanismen existieren, die den Einsatz unwirksamer oder gar schädlicher Methoden von vornherein verhindern. Hintergrund war auch, dass neue Methoden naturgemäß nicht über die gleiche Evidenz verfügen, wie sie bei etablierten Methoden bereits vorliegt.
Auch beim Bundessozialgericht scheint mittlerweile die Erkenntnis zu reifen, dass die eigene Rechtsprechung über das Ziel hinausschießt. So hielt das Gericht Dezember 2013 in einem Urteil zwar weiterhin an dieser fest, ergänzte sie jedoch dahingehend, dass die Evidenzanforderungen an neue Methoden nicht als "starrer Rahmen" missverstanden werden dürften. Seien die praktischen Möglichkeiten erzielbarer Evidenz des Nutzens einer Behandlungsmethode eingeschränkt, so könnten sich die Anforderungen an das Evidenzniveau des allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse vermindern (Az.: B 1 KR 70/12 R). Was das im Einzelnen bedeutet, hat das Gericht freilich nicht gesagt.
So richtig der Gedanke des Gerichts ist, so wenig ändert er etwas daran, dass es sich um einen halbherzigen "Reparaturversuch" handelt. Die derzeitigen Probleme schafft er nicht aus der Welt. Die vom Gesetzgeber mit § 137c SGB V bezweckte einheitliche Versorgung der Patienten im Krankenhaus mit neuen Methoden erreicht man so nicht. Wie sollten auch regionale und krankenkassenabhängige Unterschiede in der Versorgung durch eine Verringerung des Evidenzniveaus beseitigt werden? Das Problem liegt ja auf einer anderen Ebene. Es besteht darin, dass die einzelnen Krankenkassen oder Gerichte überhaupt die Evidenz bewerten und darüber entscheiden. Dies läuft einer einheitlichen und gleichen Versorgung der Patienten mit neuen Behandlungsoptionen zuwider. Das hatte der Gesetzgeber erkannt, als er im Jahr 2000 vorsah, dass neue innovative Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus erbracht werden dürfen, solange der G-BA nicht etwas anderes entscheidet.
Der Gesetzgeber ist jetzt am Zuge
Wie lässt sich die derzeitige Situation entschärfen? Eine rasche und zielgenaue Lösung kann nur vom Gesetzgeber kommen. Es ist nicht zu erwarten, dass das Bundessozialgericht in absehbarer Zeit nochmals eine Kehrtwende macht. Angesichts der Dauer derartiger Gerichtsverfahren würde dies zudem Jahre dauern. Die derzeitige Regelung bedarf daher einer gesetzlichen Nachbesserung. Da derzeit an einem zweiten Versorgungsstrukturgesetz gearbeitet wird, wäre dies der geeignete Ort hierfür.
Eine gesetzliche Lösung wäre einfach. So bedürfte es lediglich einer kleineren gesetzlichen Klarstellung. In § 137c SGB V sollte bestimmt werden, dass bis zum Inkrafttreten einer anderweitigen Bewertung des G-BA neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen. Um den Bedenken des Bundessozialgerichts Rechnung zu tragen, wäre auch denkbar, gleichzeitig zu regeln, dass neue Methoden nur dann nicht zum Leistungskatalog gehören, wenn sie offensichtlich schädlich oder unwirksam sind.
Eine solche Gesetzesänderung würde zeitnah, einfach und effektiv eine einheitliche und frühzeitige Versorgung der Patienten mit neuen Therapieoptionen im Krankenhaus ermöglichen. Sie würde zudem dem in § 137s SGB V enthaltenen Willen des Gesetzgebers Geltung verschaffen, dass es allein der G-BA, nicht jedoch die Krankenkassen oder Gerichte sind, die über den Zugang neuen Behandlungsmethoden im Krankenhaus zu entscheiden haben.
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Anschrift des Verfassers:
Dr. Christian Stallberg, LL.M. (Cambridge)
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