- Digitalstrategie Erste DiGA-Erfahrungen in Deutschland | Interview mit BVMed-Digitalexpertin Natalie Gladkov
ArtikelWien/Berlin, 31.08.2021
Medizinischer Fortschritt soll Patient:innen so schnell wie möglich zugänglich gemacht werden. Das schreiben sich gesundheitspolitische Entscheidungsträger:nnen in ganz Europa auf die Fahnen. Doch wie sieht die Realität aus? Welche Erfolgsbeispiele gibt es? Wo bestehen Hürden? Das versucht das Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI) im Zuge einer "Innovation Journey" quer durch Europa zu erfahren. Für die erste Station Deutschland, wo in den letzten beiden Jahren der Erstattung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) der Boden bereitet wurde, interviewte FOPI die BVMed-Digitalexpertin Natalie Gladkov über die ersten Erfahrungen mit den DiGAs.
Zur Vorgeschichte: Im Jahr 2019 wurde mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) in Deutschland ein richtungsweisender Schritt in Richtung Digitalisierung gesetzt. Die neue rechtliche Grundlage schuf die Möglichkeit, dass bestimmte digitale Gesundheitsanwendungen, also Apps und webbasierte Programme, von Ärzt:innen verschrieben werden können. Die Kosten übernimmt dann die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Damit sollten digitale Lösungen einen schnelleren und niederschwelligen Weg in die Regelversorgung finden, um eine qualitativ hochwertige und zugleich wirtschaftliche Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Um von den geschätzt ca. 150.000 Gesundheits-Apps weltweit jene herauszufiltern, die für Patient:innen einen Mehrwert und die nötige Sicherheit bieten, werden die Apps vom deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemäß der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) geprüft. Maßgeblich sind dabei ein hohes Niveau an Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Leistungsfähigkeit, aber auch Datensicherheit, Datenschutz und Barrierefreiheit. Außerdem wird die Versorgungsrelevanz für die gesetzliche Krankenversicherung im Sinne nachgewiesener positiver Versorgungseffekte bewertet. Besteht eine App diese Prüfung „auf Herz und Nieren“, wird sie ins zentrale DiGA-Verzeichnis aufgenommen, und die Kosten werden bei Verschreibung von der GKV übernommen.
Welche Erfahrungen haben Sie seit Inkrafttreten des DVG 2019 gemacht?
Nach der ersten großen Euphorie sehen wir mittlerweile Stärken aber auch Schwächen eines neuen, noch lernenden Systems. Derzeit werden 20 DiGAs im BfArM-Verzeichnis gelistet, was an sich eine gute Zahl ist, wenn man bedenkt, dass das Aufnahmeverfahren von Gesundheits-Apps innerhalb eines Jahres ausgerollt wurde und dass wir eigentlich noch ganz am Anfang stehen.Lässt sich daraus ableiten, wie viele Patient:innen die Apps nutzen?
Wir wissen, dass seit dem ersten Listing einer DiGA im Verzeichnis im Oktober 2020 rund 17.000 Verordnungen stattgefunden haben. Grob gerechnet würde das etwas weniger als 1.000 Verordnungen pro DiGA bedeuten. Anspruch auf eine DiGA hätten potenziell mehr als 70 Mio. Versicherte in Deutschland.Damit ist das neue System noch nicht in der Breite angekommen. Wo sehen Sie die – schon angesprochenen – Stärken und Schwächen?
Eine unzweifelhaft große Stärke ist das „Fast Track-Verfahren“, in dessen Rahmen ein Hersteller einer DiGA beantragen kann, den Nachweis von positiven Versorgungseffekten während einer bis zu 12-monatigen Testphase zu generieren. Das bewirkt eine ungeheure Dynamik, die wir uns auch für andere Nutzenbewertungsverfahren wünschen würden.Zugleich sind die Anforderungen allgemein sehr hoch. Das bringt die nötige Sicherheit, hat jedoch auch dazu geführt, dass 34 Hersteller ihren Antrag in der Zwischenzeit wieder zurückgezogen haben. Vor allem die Anforderungen an die Studien, mit denen ein medizinischer Nutzen oder sogenannte patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen der DiGAs nachgewiesen werden müssen, sind enorm. Um den medizinischen Nutzen zu belegen, sind zumeist randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) erforderlich. Eine weitere Hürde ist, dass potenzielle Hersteller von DiGAs maßgeschneiderte Studien für den deutschen Markt erstellen müssen. Nachweise über den Nutzen einer App beispielsweise in Großbritannien werden nicht akzeptiert und übernommen.
Im Rahmen einer kleinen, nicht-repräsentativen Umfrage unter Herstellern wurden Mehrkosten in einer Spanne von 500.000 bis 3,5 Millionen Euro beziffert, damit man allen Anforderungen entspricht, die eine DiGA erfüllen muss. Das sind Summen, die insbesondere von Startups nicht geleistet werden können.
Ich erwarte aber, dass viele Hersteller, die aktuell zurückgezogen haben, in das Verfahren zurückkehren werden, nachdem sie mit dem neu erlangten Wissen, was das BfArM von ihnen konkret erwartet, ihre Studiendesigns entsprechend nachjustiert haben.
Die vergleichsweise geringe Verbreitung der gelisteten DiGAs ist damit aber nicht zu erklären …
Das ist richtig, das hat mitunter auch andere Gründe. Einerseits sind viele Ärzt:innen noch skeptisch und zögern, eine DiGA zu verordnen. Einige sehen in diesen Apps sogar eine gewisse Konkurrenz zu ihren Leistungen. Andererseits kennen sich auch manche Krankenkassen-Mitarbeiter:innen mit diesem neuen Versorgungsbereich noch nicht aus und können die Versicherten entsprechend nicht zusätzlich umfassend bei der Verordnung unterstützen.Was könnte Österreich aus all diesen Erfahrungen lernen, wo es bislang noch keine vergleichbare Regelung gibt?
Digitale Gesundheitsanwendungen bieten die Chance, Lücken in der Versorgung zu identifizieren und gezielt damit zu füllen. Eine DiGA kann die Beratung und Therapie durch Ärzt:innen zwar nicht ersetzen, aber womöglich dennoch wertvolle Unterstützung leisten. Es gilt, Innovationen zu ermöglichen und zu honorieren.Wenn man das Patient:innenwohl im Blick hat, gibt es keinen Zweifel an der Idee. Das „Fast-Track-Verfahren“ ist grundsätzlich gut und erlaubt, digitale Innovationen rasch in der Gesundheitsversorgung zu bringen. Die Möglichkeit für eine schnellere Nutzenbewertung sollte deshalb auch auf digitale Medizinprodukte höherer Risikoklassen ausgeweitet werden.