- Therapiemöglichkeiten Viszeralmediziner beklagen: Potenzial der Adipositas-Chirurgie wird unterschätzt ÄrzteZeitung Online vom 13. September 2021
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Wegen bürokratischer Hürden, fehlender Versorgungsstrukturen und mangelndem Wissen fristet die bariatrische Chirurgie in Deutschland ein Schattendasein. Viszeralmediziner wollen das ändern.
Die chirurgische Adipositas-Behandlung ist in Deutschland deutlich weniger verbreitet als bei europäischen Nachbarn oder in Nordamerika. Dies hat nichts damit zu tun, dass die Deutschen schlanker sind als sie.
Vor allem habe das mit bürokratischen Hürden, fehlenden Versorgungsstrukturen, aber auch mit mangelndem Wissen über das Potenzial der Adipositas-Chirurgie zu tun, beklagte Professor Wolf Otto Bechstein aus Frankfurt am Main beim hybriden Viszeralmedizin-Kongress 2021.
Nach Bechsteins Angaben erfolgen in Deutschland 8,8 bariatrische Operationen pro 100.000 Einwohner, in Schweden seien es zum Beispiel 78 und in Belgien 107 pro 100.000. Der Viszeralchirurg und DGAV (Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie)-Kongresspräsident sprach sich für eine Ausweitung dieser Therapieoption in Deutschland und für verbesserte Rahmenbedingungen aus.
„Wir wissen seit über zehn Jahren, dass die chirurgische Behandlung des Übergewichts die effektivste ist“, sagte er bei einer Pressekonferenz. Menschen mit einem Body Mass Index von 35 kg/m2 oder mehr würden nach Magenbypass- oder Magenschlauch-Operationen um durchschnittlich 25 bis 30 Prozent abnehmen.
Dramatische Zunahmen der Inzidenz
Ein Gewichtsverlust, der meist anhaltend sei, wenngleich es Therapieversager gäbe, erklärte Bechstein. „Entscheidend ist, dass die chirurgische Behandlung der Adipositas nicht nur zu einer Gewichtsverminderung führt, sondern auch sekundäre Komplikationen verhindert und die Sterblichkeit senkt.“ Dies gelte für Herzkreislauferkrankungen sowie für die reduzierte Inzidenz von Krebserkrankungen. „Es ist eine lebensverlängernde Therapie!“
In einer im Frühjahr veröffentlichen Metaanalyse war errechnet worden, dass eine Steigerung der Zahl bariatrischer Eingriffe um ein Prozent global zu einer potenziellen Zunahme von 5,1 bis 6,6 Millionen Lebensjahren führen würde. Besonders profitieren Adipositas-Patienten mit Diabetes mellitus.
Nach aktuellen Prognosen wird in zehn Jahren jeder zweite US-Bürger adipös sein. „Die Situation in Europa ist nicht besser“, berichten Professor Geltrude Mingrone von der Università Cattolica del Sacro Cuore in Rom und Professor Stefan Bornstein von der TU Dresden (Lancet 2021; 397:1785-1786): „Die Adipositas-Inzidenz steigt in dramatischer Weise an.“
In Deutschland sind laut Robert Koch-Institut 54 Prozent der Erwachsenen von Übergewicht einschließlich Adipositas betroffen (BMI >25 kg/m2), die Adipositas-Prävalenz liegt bei 18 Prozent (BMI >30 kg/m2) (J Health Monitoring 2017; 2:21-28). Bechstein sprach von einer „Adipositas-Pandemie“, deren erste Welle noch nicht gebrochen sei. Daher müssten die Rahmenbedingungen für die Adipositas-Chirurgie in Deutschland verbessert werden.
Interdisziplinäre Nachsorge erforderlich
Bislang gilt noch, dass in der Regel Einzelanträge auf Kostenübernahme bei den Krankenkassen gestellt werden müssen. Das werde sich möglicherweise ändern, so Bechstein. Weiterhin sollen die Chancen der Adipositas-Chirurgie in der Bevölkerung wie in Fachkreisen breiter bekannt gemacht werden.
In der S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“ werden die einzelnen chirurgischen Optionen, das perioperative Management und die Nachsorge erläutert. Eine entsprechende Patientenleitlinie ist als Entscheidungsgrundlage für Adipositas-Patienten ebenfalls verfügbar.
96 Zentren zertifiziert
Die DGAV kümmert sich um die Qualitätssicherung solcher Eingriffe: Bislang sind in Deutschland 96 Zentren für Adipositas- und metabolische Chirurgie zertifiziert.
Wenn zunehmend Adipositas-Patienten operiert werden, stellt sich jedoch die Frage, wer sich um die lebenslang notwendige Nachsorge der Patienten kümmert. Nach Magenschlauchbildung oder Magenbypass besteht das Risiko einer Mangelernährung. Dauerhaft erforderlich ist die Supplementierung von Nahrungsergänzungsstoffen.
Hinzu kommen notwendige Lebensstilinterventionen und psychologische Unterstützung. Das könne nur mit einem interdisziplinären Ansatz unter Einbeziehung der Hausärzte funktionieren, so Bechstein. Er wünscht sich die Integration der bariatrischen Chirurgie in strukturierte Versorgungsprogramme. „Es ist zu überlegen, ob nicht analog zu anderen Behandlungsschwerpunkten wie onkologischen oder Traumazentren auch Zentren für die Adipositas-Behandlung geschaffen werden.“