- Patientengeschichte Martina Frömel hat Adipositas und dank Magenverkleinerung mehr als 150 Kilo abgenommen | Heute engagiert sie sich in der Adipositas-Selbsthilfe
Artikel02.02.2021
Martina Frömel ist schon als Kind übergewichtig. Über Jahrzehnte quält sie sich mit Diäten. Der Erfolg bleibt aus, sie nimmt immer weiter zu. Nach der Geburt ihres dritten Kindes mit Anfang 30 wiegt sie fast 270 Kilo. Sie kann ihre Kinder kaum noch versorgen, ihr Mann und ihre Schwiegermutter übernehmen die meisten Arbeiten. Irgendwann will ihr Körper nicht mehr, sie bricht zusammen. In der Klinik wird die Diagnose Adipositas gestellt, eine chronisch-fortschreitende Krankheit, Martina Frömel erhält die richtige Hilfe. In mehreren Operationen wird ihr Magen verkleinert. Trotz mehrerer Komplikationen nimmt sie mehr als 150 Kilo ab und wiegt heute nur noch 116 Kilo. Die inzwischen 53-Jährige genießt, was heute wieder alles möglich ist.
„Als Kind war ich schon stämmig“, erinnert sich Martina Frömel. Damals, in den 1960er Jahren, finden viele das noch gut. Aber schon der Amtsarzt bei der Schuluntersuchung mahnt an, sie müsse ihr Gewicht reduzieren. Als sie in der dritten Klasse ist, steht ihre Kommunion bevor. „Ich konnte keine Kleider anziehen wie die anderen, da habe ich nicht reingepasst“, erzählt sie. „Meine Eltern haben mir dann ein Brautkleid gekauft, das gekürzt wurde.“
Ihre Mutter versucht, sie vom Essen abzuhalten. Martina Frömel erinnert sich: „Sie hat es sogar so weit getrieben, dass sie die Küche abgeschlossen und mir nur auf einem Tischchen davor was zu Trinken hingestellt hat.“ Gleichzeitig stecken ihr der Bruder und die Oma Süßigkeiten zu. Sie wollen ihr was Gutes tun, sie sollte auf nichts verzichten müssen. „Letztlich haben sie damit natürlich das Gegenteil erreicht.“
Mit 13 soll sie die erste Diät machen. „So eine Brigitte-Diät, das fand meine Mutter toll“, sagt sie. „Da gab’s vor allem Suppe, das war grausig.“ Damals wiegt sie bereits über 90 Kilo. Die Diät schlägt zunächst an, sie nimmt 20 Kilo ab. Zur Belohnung bekommt sie eine neue Hose. „Aber der Jojo-Effekt ließ nicht lange auf sich warten“, seufzt sie. Ihr ganzes Taschengeld steckt sie in Süßes, nutzt jede Gelegenheit, um an Essen zu kommen.
1983, mit knapp 17 Jahren, beginnt Martina Frömel eine Lehre bei der Post. Damals wiegt sie 105 Kilo. Sie findet ein neues Hobby, singt in einer Gruppe mit anderen Mädchen, knüpft Freundschaften, macht weitere Diäten. Ein Jahr später wird sie auf Kur geschickt. „Dort sollte ich ein optimales Essverhalten lernen“, sagt sie. Sie nimmt ein bisschen ab. Und wieder zu. Sie hat immer weniger Lust rauszugehen, will die Blicke der Menschen nicht mehr spüren.
Familienleben mit gesundheitlichen Einschränkungen
Mit Anfang 20 lernt sie ihren Mann kennen. Damals wiegt sie 120 Kilo. Sie wird schwanger und bekommt ihren ersten Sohn, zwei Jahre später den zweiten. Der Stress lässt sie noch mehr essen. „Frustfressen“, wie sie sagt.
Nach den Geburten gesellen sich zum Übergewicht weitere Erkrankungen. Es wird Diabetes Typ-2 festgestellt, sie leidet an Bluthochdruck. Hinzu kommen Geschwüre an den Beinen. Sie erläutert: „Ich habe ein angeborenes Lymphödem. Dadurch sammelt sich bei mir Wasser in den Beinen an.“ Die Schwangerschaften verstärken das Problem, zusätzlich drückt das Gewicht auf die Beine, ihre Unterschenkel brechen auf.
Zum Arzt geht sie nicht. Sie scheut die Blicke und die Kommentare. „Das war teilweise entwürdigend“, sagt sie. Erst als sie seltsame Magenprobleme bekommt und eine Beule an ihrem Bauch entdeckt, sucht sie doch einen Mediziner auf. Der stellt fest: Sie ist schwanger, das Kind kommt in sechs Wochen. Sie lacht bei der Erinnerung: „Ich hatte ja schon zwei Kinder und kannte mich aus. Aber durch meine Fülle und meine vielen gesundheitlichen Probleme habe ich das nicht erkannt.“
Ihre Tochter wird 1997 geboren. Spontan und komplikationslos, wie alle ihre Kinder. „Eigentlich ein Wunder bei meiner Erkrankung.“ Ihr Gewicht damals: gut 190 Kilo. Wegen den offenen Beinen und dem Übergewicht kann sie praktisch nur noch auf der Couch sitzen. „Meine Kinder waren immer um mich rum, aber ich konnte sie kaum noch versorgen, das meiste haben mein Mann und meine Schwiegermutter übernommen“, erzählt Martina Frömel.
13 Operationen zum neuen Glück
Am 40. Geburtstag ihres Mannes – ihre jüngste Tochter ist inzwischen im Kindergarten – bricht sie zusammen. Ihr Körper kommt nicht mehr an gegen die vielen Erkrankungen, die Diabetes, den Bluthochdruck, das Gewicht. „Aber es war mein Glück, dass mir damals die Lämpchen ausgingen“, sagt Martina Frömel heute.
Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert und trifft auf eine Oberärztin, „die sich mit der ganzen Chose auskannte“, wie sie sagt. Die Ärztin ist auf Adipositas und Lymphödeme spezialisiert, sieht sofort, was mit Martina Frömel los ist. „Sie meinte zu mir, die ganzen Diäten hätten mich kaputt gemacht, ich solle das jetzt lassen.“ Die Ärztin erklärt ihr, dass sie chronisch krank ist und nicht einfach nur willensschwach. „Ich bin vor ihr in Tränen ausgebrochen“, erinnert sich Martina Frömel. „Alle hatten immer zu mir gesagt, ich wäre nur charakterschwach, dass ich nicht abnehme.“
In der Klinik werden endlich ihre offenen Unterschenkel richtig versorgt, die Geschwüre heilen ab. „Es war höchste Eisenbahn, ich stand kurz vor der Amputation“, erzählt Martina Frömel. 13 Wochen bleibt sie im Krankenhaus, nimmt dort 30 Kilo ab und wird zugleich auf ein Adipositas-Zentrum in Frankfurt vorbereitet. Dort soll sie wegen des Übergewichts behandelt werden. Sie wiegt mittlerweile 247 Kilo.
Martina Frömel erinnert sich: „Als ich in das Zentrum kam, guckte mich der Chefarzt so über seine Brille an und meinte: Fräulein, wenn du nicht in den nächsten sechs Wochen operiert wirst, guckst du dir die Radieschen von unten an.“ Trotz ihres hohen Gewichts muss sie für die Genehmigung durch die Krankenkasse noch ein psychologisches Gutachten erstellen lassen – inklusive einer persönlichen Stellungnahme. Erst dann genehmigt die Krankenkasse die Mehrstufentherapie.
Danach geht der Marathon los, wie sie sagt. Insgesamt 13 Operationen werden es am Ende sein. Sie bekommt zunächst einen Magenballon gelegt. Dabei wird ein kleiner Silikonballon in den Magen gelegt und mit Kochsalzlösung gefüllt. Der Ballon füllt einen Teil des Magens, so dass die Betroffenen schneller satt sind. Martina Frömel soll dadurch weiter abnehmen, um für die nächsten OPs bereit zu sein. Sie erklärt: „Durch mein Übergewicht konnte ich keine Vollnarkose bekommen, daher musste ich erst mal abnehmen.“
Als sie genug abgenommen hat, erhält sie zunächst einen sogenannten Schlauchmagen. Bei der Operation wird das Volumen des Magens um bis zu 90 Prozent reduziert. In weiteren Operationen wird der Restmagen entfernt, der Darm gekürzt. „Leider habe ich so ziemlich alle Komplikationen mitgenommen, die man bekommen kann“, seufzt Martina Frömel. Sie hat eingeklemmte Hernien, einen Leistenbruch, der Magen muss nachjustiert werden, da er sich doch wieder ausgedehnt. „Aber ich würde es immer wieder tun“, sagt sie rückblickend.
Ihr Magen heute: „Oben ist die Speiseröhre, in dieser Breite bleibt der Magen, wie ein Schlauch, und daran hängt der verkürzte Darm.“ Maximal 0,4 Liter kann ihr Magen noch aufnehmen, bei gesunden Menschen sind es bis zu 1,6 Liter. Für den Rest ihres Lebens muss Martina Frömel Nahrungsergänzungsmittel nehmen, damit ihr Körper etwa genügend Vitamine, Mineralien und Spurenelemente erhält.
Inzwischen wiegt sie nur noch 116 Kilo. „Und ich genieße mein Leben 2.0. Allein die Lebensqualität, die ich zurückbekommen habe, das kann ich gar nicht beschreiben.“ Ohne die Magenverkleinerung würde sie heute ihre inzwischen erwachsenen Kinder nicht erleben können. „Inzwischen mache ich sogar Leistungssport“, lacht sie. Es hat sie zum Sportschießen verschlagen. „Und ich bin gar nicht so schlecht. Ich durfte schon ein paar Mal zu den Deutschen Meisterschaften und habe dort den 10. Platz gemacht.“
Betroffenen rät Martina Frömel, sich unbedingt Kontakte zu Gleichgesinnten zu suchen, etwa in einer Selbsthilfegruppe. „Der Austausch untereinander ist sehr, sehr wichtig“. Sie selbst leitet seit fünf Jahren eine Selbsthilfegruppe in ihrem Heimatort. Knapp 20 Leute kommen regelmäßig, zwischen 16 und 82 Jahren. 2019 hat sie sich zudem der AdipositasHilfe Deutschland angeschlossen. Der Patientenverband unterstützt aktiv Selbsthilfegruppen und setzt sich für die Belange von Betroffenen – auch indikationsübergreifend - auf den unterschiedlichsten Ebenen ein.
Was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, musste Martina Frömel sich mühsam erkämpfen. Sie sagt: „Das Leben wird wieder so ganz normal, wie bei anderen auch.“